Weingartner

23. Dezember 2004

Eine mögliche Art Heimat ist mir, auch wenn das für einen in Wien lebenden Menschen klischeehaft klingt, mein Kaffeehaus. An sich schreibe ich ungern davon, will ich doch nicht, dass es entdeckt wird und es mit der Ruh dort ein End hat.
Entdeckt habe ich es zufällig, vor gut fünf Jahren (eigentlich hat es ja mich zu sich gerufen). Wie es sich gehört, wurde ich erst nach etwa einem dreiviertel Jahr für mich merkbar als immer wieder Kommender wahrgenommen, und langsam ergaben sich kurze Gespräche über das übliche A Melange, bitte – – – Ihr‘ Melange, bitte hinaus. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits das Publikum zu unterscheiden begonnen, das dieses Familienunternehmen bevölkert.
Das Weingartner ist ein reichlich patiniertes klassisches Wiener Eckcafà©, mit einem großen Spiegel im kürzeren rechten Flügel, wo sich auch die wenigen, naturgemäß grünen Logen befinden; im schlauchartigen länglichen Teil (die Budl steht zu beiden Trakten in einem Winkel von 45°) stehen die Herzobjekte, jene drei bestens gepflegten Turniertische. Man spielt vorwiegend Dreiband-Carambol, wenige nur spielen nach den Regeln der offenen Partie. (Wer einen zeitgeistigen Snooker oder herkömmliche Wirtshaus-Pool-Tische sucht, ist hier am falschen Ort.) Billiard inszeniert sich hier als klassenübergreifendes Philosophieren, und oft, wenn ich vom Häusl komme, bleibe ich beimÖlofen stehen und goutiere fingerschnippend, wie es sich gehört, die oft recht eleganten Spielzüge. Zusätzlich zum Dreiband wird freitags an zwei Tischen tarockiert.
Das Publikum ist nicht nur sehr heterogen, die verschiedenen Typen haben auch erworbene Namen: Der Herr Präsident etwa (ein Rom oder Sinti mit dem Schnauzbart eines Walrosses und von stattlichem Umfang) trägt immer weißes Hemd mit Krawatte und ist unerreicht in seiner Grandezza, bei kniffligen Bällen seine ganze Gestalt mitsamt der Krawatte über den Billiardtisch zu lehnen. Gulli ist der Taxler, der nicht alle Wuchteln sofort versteht und deshalb durchaus liebevoll gehänselt wird; aber Jessy, das ältliche Spanielweiberl von Herrn Peter geht mit ihm am liebsten Gassi. Herr Kurt ist Frühpensionist, oft im Trainingsanzug und der mit Abstand dickste Mensch auf dieser Bühne, ein klassischer Nebochant, dem nie nichts passt; ich stelle mir vor, dass es seinen phlegmatischen Boxer deshalb nicht mehr gibt, weil Herr K. auf ihn draufgefallen ist. Die Damen und Herren der oberen Dienstklassen des benachbarten Etablissements versammeln sich auch jeden Abend vor ihrem Klassedienst im Eingangsbereich, da kann es manchmal recht hoch her gehen. Hoch her geht es auch, wenn Herr Strauß, ein weißhaariger Clanchef wie es heißt, sehr Geschäftsmann, deutscher Akzent, sehr freundlich und beliebt, seinen Hof hält. Seine Zechen sind immer die höchsten, und mit dem Schmattes erweist er sich auch als recht generös, wird berichtet.
Stillere Besucher haben zum Teil keine eigenen Namen, Sonntag nachmittags gibt es etwa einen Zigarrenraucher und einen Pfeifenraucher, beide etwa mein Alter und wirklich sehr gepflegte Personen. Sie lesen Zeitung, haben manchmal auch Gäste, mit denen sie leise Gespräche führen. Ein schweigsamer täglicher Besucher bis zuletzt war auch Opa, so hat man ihn genannt, und erst als sein Partezettel am grünen Filz angeschlagen war, hat man erfahren, dass er ein Professor oder so was war und fast 95 Jahre alt wurde. Zum Kaffee hat er immer eine halbe Buttersemmel bekommen.
Meistens, wenn ich vom Tod einer der Kaffeehausgemeinschaft nahe stehenden Persönlichkeiten erfahre, erkundige ich mich bei Rudi Trallala, der kennt sie alle. Rudi ist einer meiner Liebsten. Er ist schon über 75, lange Witwer, stolz auf seine Cello spielende Enkelin, und er hat sich entschieden, immer fröhlich zu sein, eben Trallala. Sein effetvoller Stoß (vor allem der spezielle Schwung) ist unvergleichlich.
Rudi Trallala
Rudi Trallala

Und so ist auch diese Woche ein Partezettel im Cafà© ausgehängt: Herr Herbert ist im Alter von 74 Jahren verstorben. Diesmal bedarf es keiner näheren Erklärung. Obwohl ich der Meinung war, ihn gestern noch gesehen zu haben, ist es wirklich Herr Herbert, die Komplikationen nach einer Herzoperation. Erst seit etwa einem halben Jahr haben wir uns geduzt (hier ist man per Sie; trotzdem ist es eines Tages so weit, dass man sich plötzlich und ohne nähere Erklärung duzt, was nichts an der generellen Distanz ändert, und das Herr in der Anrede bleibt natürlich unangetastet.)
Herr Herbert war jener untergroße Mann, dem ich die 74 nicht angesehen habe. Etwas dicke Brille, im Sommer die extrakurze, zerfranste Jeans-Short, darüber ein quergestreiftes Leiberl, beachtlicher Bauchumfang und abenteuerlich onduliertes, möglicherweise gemeschtes Haar. Dazu eine Herrenhandtasche, Modell Mallorca 1978, Goldketterl und mindestens zwei schwere Ringe an den recht feisten Fingern. Wir haben uns immer kurz (und zunehmend freundlich) zugenickt, dabei halblaut Hallo oder Seawas gesagt. Unser innigst geliebter Opa hat seinen Körper der Anatomie gestiftet.

Was meine Position im Weingartner betrifft, so kann ich berichten, dass aus mir nach etwa einem Jahr, als mich Herr Stefan einmal beim Notenschreiben betreute, plötzlich der Herr Compositeur, kurz: Komposi wurde. Seither weiß ich mich endgültig angenommen, und heuer habe ich bereits zum vierten Mal eine Flasche Wein (Grüner Veltliner, Poysdorf, Weinviertel, Qualitätswein DAC) als Jahresgabe erhalten. Überreicht Mit den besten Grüßen von der Frau Chefin, natürlich von Herrn Peter.

PS: Der immer nervöse Schnölli mit seiner Tenorpolypenstimme, der Dichtersänger Holzi, der Manfred Mann’s Earth Band- und Sugababes-Fan Herr Stefan, der Exjugendfußballtrainer (somit Sozialarbeiter) und jetzige Oberkellner Herr Peter und andere Persönlichkeiten und Vorkommnisse werden nach Weihnachten vorgestellt.