Schule des Staunens 10.2

24. April 2015

Bruckners Biographie steht im Banne der Anekdotalität, man könnte sogar von einem Anekdotalitarismus sprechen. Nämlich: es reiht sich Klischee an Klischee. Angebliche Charaktereigenschaften werden uns da überliefert: der Tölpel, der Bauernbleampl, der unterwürfige Kerzerlschlucker, immer zumindest eine Nummer zu groß angezogen, schlampert noch dazu. Die Zeitgenossen, sie haben ihn allesamt verkannt und wahrlich Wagner nur war sein Genie bewusst.

Das ist bitte alles falsch! … Wie aber jede falsche Überlieferung kristallisiert sie entlang eines wahren Kerns. Ab dort jedoch wuchert es aus. … In der Tat hatte Bruckner größte Mühe, sein musikalisches Werk vor fremder Einflussnahme zu behüten, zu verteidigen. Er ging dabei keinesfalls immer geschickt vor und musste in Kauf nehmen, dass diejenigen, die von der Größe seiner Kunst nichts begriffen hatten, in seinen privaten Angewohnheiten wühlten. So ist das, bis heute. Gut zwei Drittel der doch recht umfangreichen Bruckner-Bibliographie handeln unnötigerweise von den Merkwürdigkeiten, insbesondere dem äußeren Erscheinungsbild und Gehabe eines angeblich kindlichen Mannes. Bruckners Charakter wird uns also hauptsächlich über mehr oder weniger verbürgte Anekdoten überliefert, weniger bis kaum in persönlichen Zeugnissen. Es gibt auch kein von ihm formuliertes musikästhetisches Programm, und seine Allgemeinbildung muss denn auch als recht marginal angesehen werden. So einer kann kein satisfaktionsfähiger Gesprächspartner für Meister Wagner sein! Einzig seine – vorbildlich edierten – Briefe sind neben den Partituren (die er, nicht blöd, in ihrer Originalgestalt der heutigen Nationalbibliothek vermacht hat) beredtes Quellmaterial; die Briefe bieten vor allem auch aufgrund gewisser darin unleugbar zutage tretender Schrulligkeiten recht vergnüglich (aber bitte nicht schadenfroh!) zu lesende Informationen über Bruckner, den Menschen, Bruckner den Typen, Bruckner, den (Eigenzitat:) Kampl.

Fritz von Uhdes (1848–1911) Gemälde „Das Abendmahl Christi“ aus dem Jahr 1886 zeigt ganz links am Kopfende der Tafel Anton Bruckner, als Jünger mit Blickkontakt zu Jesus. Bruckner, der, so Uhde, Hauptapostel. … Ob er sich wohl getraut hätte, Ihn um glaubensvollzugsbezügliche Erleichterungen zu bitten? Weil, war sein spontaner Ausruf, als er von der ihm zugedachten Rolle im Gemälde erfuhr, auch: „Jå, bin i denn a Jud‘?“, so hat er doch, sich einkriegend wohl, in herausbrechender Frömmigkeit auf seine zweifellose Unwürdigkeit hingewiesen, in so einer ehrenden Rolle abgebildet zu werden, und so gehört sich das ja bitteschön auch. (Mehr zur Nichtswürdigkeit als Lebenshaltung weiter unten.)

Zur Physiognomie Bruckners gibt es, ausgehend von den traditionsstiftenden Nekrologen im Oktober 1896, zwei parallel laufende Linien, die ihm einerseits Imperatorenprofil, andererseits einen Bauernschädel bescheinigen. Die Neue Freie Presse wusste gar, dass es an Kaiser Claudius gemahnte, diesem Kampl.