Schule des Staunens 16.4

25. Mai 2016

Unter allen nur unzureichbar interpretierbaren Komponisten erscheint Schubert als der unerreichbarste: Artur Schnabel, gewissermaßen der Entdecker (der An-den-Tag-Bringer) der Schubert-Sonaten, wusste darum und nannte sie »Kompositionen, die besser sind, als man sie aufführen kann.«

Glenn Gould, dieser tragische Hyper-Perfektionist (denken wir nur an seine Tonbandschnipseleien), hat überhaupt keinen Schubert aufgenommen: Lediglich in einer kanadischen Fernseh-Dokumentation aus dem Jahre 1959 (»Glenn Gould Off the Record«) findet sich eine Perikope von lediglich 47 Sekunden, da spielt und singt er in seinem Landhaus, nachdem er seinem Gesprächspartner die rhetorische Frage »Is this shy music?« gestellt hat, den Anfang des ersten Satzes von Schuberts 5. Symphonie in Bb-Dur an, wobei er recht recht unbekümmert in die Tasten greift, auch in den Gatsch, wie wir sagen. – Tut das gut, Imperfektes, mithin Menschliches (jenseits der bekannten, gepflegten Marotten und Exzentritäten) von so einem musikalischen Erzengel miterleben zu dürfen: Das entdiminuisiert unsereins! Und: Ist’s auch das Einzige, was wir von Gould über Schubert haben, so hat er doch in dieser rhetorischen Frage ganz gut den Kern der Angelegenheit getroffen. Sowas kann auch nicht ein jeder. In den Kommentaren, wie sie auf youtube üblich sind, sehnt sich ein Gould-Fan aus New York City an diesen geweihten Ort, möchte unverzüglich aufbrechen, bremst sich allerdings gleich wieder ein, indem er mit befremdlicher Gewissheit mutmaßt, dass sich dort wohl inzwischen, wie überall auf der Welt, alles zum Schlechteren verändert haben dürfte. (Muss wohl Wiener Vorfahren haben, wenn er derart ansatzlos zu måtschkern in der Lage ist.) Dem Kommentar wird mit schlagend-affirmativem amerikanischen Optimismus gekontert: »As long as you idealize the past the present will always disappoint.«

Auch Friedrich Gulda hat sich bei Schubert merklich zurückgehalten, angeblich, weil er sich vor der seiner Musik innewohnenden suizidalen Tendenzen bewahren wollte: »Mein Verhältnis zu Schubert ist bis heute eines von äußerster Zurückhaltung und Scheu, ja geradezu Furcht. (… ) Von dieser (…) zutiefst wienerischen Schubertschen Grundstimmung angesteckt zu werden, empfand und empfinde ich bis heute als existenzielle Gefährdung. Mich in sie heineinfallen zu lassen, wie es ja eine ernstzunehmende Interpretation erfordert; als Urwiener um diese Schubert’schen Abgründe wissend mich ihnen gänzlich hinzugeben; das eben erzeugt bei mir erwähnte Scheu, Zurückhaltung und Furcht.« Auf Wienerisch sagte er es dem ORF-Produzenten Gottfried Kraus eines Novemberabends in den späten Achtziger Jahren auf der Straße so: »Då kaun i mi jå glei umbringan.«

(Aus meinem Manuskript zur Schule des Staunens vom 19.5.2016. Wird auf Nachfrage gern als .pdf zugesandt.)